Was ist (für mich) Rassismus?

| rassismus

Wie für viele Begriffe aus politisch wichtigen Themenfeldern gibt es für “Rassismus” viele mögliche Definitionen. Die Auswahl der Definition ist oft nicht minder politisch, als die Anwendung selbst. Das macht die Sache in zweierlei Hinsicht schwierig: Zunächst einmal muss man immer im Auge behalten, was der andere vielleicht gerade meinen könnte, um ihn in einem vielleicht gerade hitzigen Diskussionsverlauf nicht auch noch falsch zu verstehen. Andererseits muss man sich auch selbst überlegen, was man durch den Begriff zum Ausdruck bringen möchte und dann über den gesamten Verlauf der eigenen Ausführungen zu dieser Definition stehen. Deswegen drehe ich die Frage, vielleicht auf den ersten Blick ungewöhnlich, zunächst mal um: Was soll er denn bedeuten?

Aspekte

Zunächst einmal soll der Begriff zum Ausdruck bringen, dass jemand abgelehnt wird, weil er grundsätzlich anders ist und nicht, weil er sich im konkreten Fall anders verhält. Die Ablehnung erfolgt auf unpersönlichen Klassifikationsmerkmalen, und nicht auf konkreten Meinungen oder Handlungen einer Person. Wir erleben also eine Pauschalisierung, indem (oft eingebildete) Gruppeneigenschaften auf alle Individuen der Gruppe heruntergebrochen werden, eine Abgrenzung des “wir” von dem “sie”, und damit eine Ausgrenzung.

Was das genau für Klassifikationsmerkmale sind, ob geographische Herkunft, Abstammung, Hautfarbe, Nasenform, Haarstruktur, kulturelle Eigenheiten, sexuelle Orientierung, Religionszugehörigkeit, Sprache, Behinderung oder sonst was herangezogen wird, ist eigentlich egal. Der Mechanismus ist immer der gleiche. Diese da sind anders als ich, anders als “wir”, und deswegen sind sie schlechter, böse, gefährlich, und überhaupt: mach das weck.

Ob eine ablehnende Ausgrenzung unbedingt erforderlich sein soll, kann man durchaus diskutieren, und ob “positive” Vorurteile jetzt wirklich so tolle Wurst sind, das sei mal dahin gestellt. Jedenfalls reagieren Menschen mit dunkler Hautfarbe nicht unbedingt erfreut, wenn man ihnen, ohne sie ansonsten im Mindesten zu kennen, unterstellt, dass auch sie persönlich bestimmt “Rhythmus im Blut” hätten. Ich möchte die Ablehnung in “meinem” Rassismusbegriff trotzdem drin haben, weil zwischen dem angesprochenen, gern auch als “alltagsrassistisch” aufgefassten Verhalten und der seit einigen Jahren wieder freimütig öffentlich vorgetragenen Fremdenfeindlichkeit durchaus ein Unterschied besteht.

Klassisch gehört zum Rassismusbegriff auch gern die Idee der prinzipiellen Minderwertigkeit der jeweils “anderen”. War es früher der “Neger”, der grundsätzlich –hätte man es schon gekannt: genetisch– thumb und ungebildet war, sind es heute Leute, die “einen syrischen Grundschulabschluss haben und auf Jahrzehnte nicht in den deutschen Arbeitsmarkt einzugliedern sind”. Die Wortwahl hat sich geändert, aber das daraus abgeleitete Konzept der Minderwertigkeit nicht.

Ja, aber Rass-ismus…

Phänotypische (äußere) Merkmale heranzuziehen, wie sie historisch für die Bildung von “Menschenrassen” gewählt wurden, bieten sich bei der Auswahl von Klassifiktionsmerkmalen für Ausgrenzung durchaus an. Schließlich sind sie ja so schön offensichtlich.

Klammer auf. An dieser Stelle könnte man jetzt vertiefen, dass gerade die sichtbaren Eigenschaften durch nur einen kleinen Teil des Genoms weitergegeben werden, und vieles darauf hindeutet, dass die Variation innerhalb eines Phänotyps erheblich größer sein kann, als die zwischen verschiedenen Phänotypen, je nachdem, welchen Anteil des Genoms man getrachtet. Aber das hier ist ein politisches Blog und keins über Molekularbiologie. Deswegen reicht es mir hier auch völlig, darauf hinzuweisen, dass ernsthafte Wissenschaftler seit langer Zeit keine “Menschenrassen” mehr postulieren. Wer mehr wissen will, kann sich z.B. anhand des Abschnittes “5.3 Rassistische Ressentiments aus molekulargenetischer Perspektive” aus der weiter unten noch ausführlich zitierten Arbeit von Johannes Zuber in die Materie einarbeiten. Klammer zu.

Trotzdem will ich meinen Rassismusbegriff nicht auf die Ausgrenzung aufgrund phänotypischer Merkmale beschränken. Zum einen, weil es für Menschen aufs selbe rauskommt, ob ich sie ausgrenze, weil sie schwarz sind, oder weil sie aus Nigeria kommen. Zum anderen aus ganz pragmatischen Gründen: phänotypische Merkmale tragen der Breite des Problems einfach nicht ausreichend Rechnung. Im Sinne einer “klassischen” Rassentheorie wären z.B. Menschen aus Eritrea, Nigeria und Syrien sehr unterschiedlich. Würde man sich also auf die Phänotypen beschränken, würde für “die pauschale Ablehnung von Schutzsuchenden aufgrund ihrer (kulturellen) Herkunft” diese umständliche Umschreibung notwendig. Gerade das soll aber im Begriff enthalten sein.

Umgekehrt scheint es mir auch Programm zu sein, wenn sich gerade die schlimmsten Ausgrenzer und Pauschalisierer gerne auf den engsten möglichen Begriff von Rassismus zurückziehen. Dann können sie “korrekter” Kritik unverhältnismäßig aufgeblähte Wortmonster abverlangen und durch die Diskussion darüber vom eigentlichen Kritikpunkt ablenken. Wer hier genauere erfahren will, kann unter “Derailing” nachschlagen und hier etwas über praktische Aspekte erfahren.

Ist das jetzt deine persönliche Rassismustheorie?

Die Gefahr besteht. Daher ist der nächste logische Schritt, zu schauen, was die anderen machen. Welche Definitionen werden da herangezogen und von wem. Wenn wichtige und verbreitete Definition zu dem oben Gesagten passen, dann ist die Verwendung in diesem Sinne unbedenklich und wird wahrscheinlich nur dann zu Widerspruch Anlass geben, wenn gerade ein Derailing-Versuch unterwegs ist.

Lesen wir also nach:

UN Rassendiskriminierungskonvention (1965)

Artikel 1 (1) In diesem Übereinkommen bezeichnet der Ausdruck “Rassendiskriminierung” jede auf der Rasse, der Hautfarbe, der Abstammung, dem nationalen Ursprung oder dem Volkstum beruhende Unterscheidung, Ausschließung, Beschränkung oder Bevorzugung, die zum Ziel oder zur Folge hat, dass dadurch ein gleichberechtigtes Anerkennen, Genießen oder Ausüben von Menschenrechten und Grundfreiheiten im politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen oder jedem sonstigen Bereich des öffentlichen Lebens vereitelt oder beeinträchtigt wird.

Passt so weit, ist aber noch ziemlich eng gefasst, da die wissenschaftliche Überwindung der Idee von Menschenrassen damals noch nicht vollständig erfolgt war.

In Deutschland bleiben auch ziemlich wüste rassistische Ausfälligkeiten wie die von Thilo Sarrazin oder die von Malik Karabulut straffrei, wie die von der aktuellen Diskussion um “Flüchtlinge” noch weitgehend unbelastete Darstellung der Bundeszentrale für politische Bildung “Wenn die Vereinten Nationen von Rassismus sprechen – und Deutschland nicht” vom 12.6.2015 zu Recht beklagt. Daher wird man hier eher nicht fündig, wenn man etwas verbindliches sucht. Entsprechend ist sogar die Definitionsseite der bpb selbst eher auf was-ist-was Niveau. Man würde ihr eine Überarbeitung durch die Macher der “Sendung mit der Maus” wünschen.

Also mal bei den Nachbarn gucken: Die Schweizer, die ja nun nicht gerade im Verdacht überbordender Gastfreundschaft gegenüber Zuwanderern stehen, finden klare Worte:

«Der Rassismus ist die verallgemeinerte und verabsolutierte Wertung tatsächlicher oder fiktiver Unterschiede zum Nutzen des Anklägers und zum Schaden seines Opfers, mit der seine Privilegien oder seine Aggressionen gerechtfertigt werden sollen.» (Albert Memmi, 1992: Rassismus. Frankfurt a.M., S. 164)

Das klingt auf den ersten Blick sehr gut, weil es überhaupt keine einengenden Bedingungen mehr an die verwendeten Klassifikationsbegriffe macht. Zusätzlich kommt man mit ihr ohne wiederum zu erläuternde Begriffe wie Hass, Hetze o.ä. aus, und trotzdem geht meine bisherige Lieblingserklärung pauschalisierender Hass aufgrund Geschlecht, Abstammung, “Rasse”, Sprache, Heimat und Herkunft, Glauben, religiöser oder politischer Anschauungen, sexueller Orientierung oder sonstwas voll darin auf. Das liegt vermutlich daran, dass Memmi nicht versucht hat, etwas zu beschreiben (was ich bei der alten Formulierung getan habe) sondern die Formulierung anhand von sogenannten “Elementen” entwickelt hat (so wie ich bei diesem Text auch gestartet bin). Memmis Elemente waren

  • Differenz: (Über-)Betonung oder Konstruktion tatsächlicher oder fiktiver Unterschiede
  • Wertung: Der Rassismus liegt nicht in der Feststellung eines Unterschieds, sondern in dessen Verwendung gegen einen anderen
  • Verallgemeinerung: Das Individuum wird nicht mehr für sich betrachtet, sondern als Mitglied einer Gruppe, deren Eigenschaften es zwangsläufig, a priori besitzt, es wird entindividualisiert.
  • Funktion: Sinn und Zweck des Rassismus liegt in der Vorherrschaft. Sekundär kompensiert er psychische Defizite,…

Das passt ziemlich gut zu den Kriterien, die ich oben aufgestellt habe:

  • Betonung des anders seins, “wir” gegen “sie”
  • ablehnende Ausgrenzung
  • Pauschalisierung, unpersönliche Klassifikationsmerkmale

Und deswegen erscheint mir das Ergebnis auch hervorragend geeignet. So will ich’s ab jetzt halten. Wem das zu abstrakt ist, der kann ja die Begründung oben nachlesen.

Oder doch Heterophobie?

Interessanterweise schlug Memmi in selben Werk auch vor:

Mit «Rassismus» soll ausschließlich die Ablehnung des anderen unter Berufung auf rein biologische Unterschiede, mit «Heterophobie» soll die Ablehnung des anderen unter Berufung auf Unterschiede jedweder Art gemeint sein. Damit wird der Rassismus zu einem Sonderfall der Heterophobie (zitiert nach Wikipedia)

Das würde tatsächlich viel unnötige Reibung aus der Diskussion nehmen, Derailing verhindern und z.B. auch diesen Text unnötig machen. Hätte sich das damals durchgesetzt – ich wär’ sofort dabei. Aber Hand aufs Herz: würde das jetzt und heute hier irgendjemand verstehen?

Umgekeht sagt Wikipedia, leider ohne Nachweis, Memmis Definition oben sei “die in der Rassismusforschung aktuell am breitesten akzeptierte Definition”. Belassen wir’s dabei.

Ne, doch!

Es kann übrigens durchaus sein, dass es völlig egal ist, welchen Begriff man im Detail anlegt, wenn z.B. Johannes Zuber im Fazit seiner Dissertation feststellt,

dass der biologisch konnotierte Rassismus im 21. Jahrhundert keineswegs eine längst überwundene und überholte Ideologie darstellt, sondern heute mehr denn je in unterschiedlichen –sämtliche gesellschaftliche Sphären umfassenden– Ebenen der bundesrepublikanischen Bevölkerung zu identifizieren ist. Insbesondere die Kernelemente des biologisch-genetisch konnotierten ‚Rassenrassismus‘ sind wieder nachhaltig existent, auch wenn sie vornehmlich indirekt, verschleiert und verdeckt auftauchen, um vordergründig dem gesellschaftlichen Normen- und Wertesystem zu entsprechen.

Auf diese Argumentation einzusteigen hat allerdings den Nachteil, dass man in jedem Einzelfall nachweisen müsste, dass das verwendete Argument “nur” ein verkleidetes biologistisches ist. Zuber hat das Beispiel von Thilo Sarrazin’s Buch “Deutschland schafft sich ab” getan. Auf 15 Seiten weist er anhand von fast hundert Textstellen eine Dichte von fast 55% “K4” unter den Rassismen nach. Das mag zwar ein intellektuell befriedigender Sport sein, aber in der täglichen Diskussion ist das sicher nicht machbar. Pragmatisch geht anders.

Daher kann auch dieses interessante Forschungsergebnis mein Bekenntnis zu Memmis Definition nicht erschüttern. Aber vielleicht ist es ja versöhnlich gegenüber Leuten, die sich dem Thema zum ersten Mal nähern und sich ganz ohne politische Agenda einfach wundern, was Rassismus mit Islam zu tun hat.