Den Migrationspakt lesen

| migration afd gcm

Machen Sie sich etwa keine Sorgen bzgl. des Migrationspaktes?

Bezüglich des Inhalts: Nein.

Zuvörderst liegt das wohl daran, dass ich den Text des endgültigen Entwurfes gelesen habe. Die diffusen Vorwürfe, die von verschiedenen Seiten dagegen ins Feld geführt werden, konnte ich am Text nicht nachvollziehen. Um ehrlich zu sein: alles was da steht, sollte entweder aus einem Minimalkonsens zum zivilisierten Umgang miteinander heraus ohnehin selbstverständlich sein, oder sind völlig banale, sinnvolle Maßnahmen beim Umgang mit dem Phänomen.

Bezüglich der Verbindlichkeit: Ja.

Wenn man bedenkt, dass es erheblich verbindlichere Übereinkünfte gibt, nehmen wir als Beispiel die Menschenrechts-Charta, und wie diese weltweit mit Füßen getreten werden, dann besteht zumindest die begründete Befürchtung, dass der sog. „Migrationspakt“ das Papier nicht wert ist, auf dem er steht. Und das wäre schade.

Kennen Sie den Inhalt?

Ich kenne ihn nicht nur, sondern ich habe ihn auch verstanden. Und daher befürchte ich, dass den meisten „Kritikern“ einige wichtige Punkte nicht völlig präsent sind:

Um was geht’s im “Pakt”?

Das Allermeiste, was da steht, ist in oder zwischen halbwegs zivilisierten Ländern ohnehin geltende Rechtslage. Neu ist ein gewisses Bekenntnis zu Investitionen vor Ort (18 b, d-f). Die in der Überschrift („Ziel 2“) gewählte Formulierung ist so durchdacht, sachkundig und voller Empathie, dass ich sie hier wiedergeben möchte:

Minimierung nachteiliger Triebkräfte und struktureller Faktoren, die Menschen dazu bewegen, ihre Herkunftsländer zu verlassen.

Allein über dieses Satzfragment könnte man einen ganzen Artikel schreiben. Es ist übrigens eine traurige Bestätigung für meine oben geäußerten Bedenken zur Verbindlichkeit, dass die erste Maßnahme dazu ein lasst-uns-doch-mal-machen-was-wir-schon-vereinbart-hatten ist (18 a).

In weniger zivilisierten Ländern scheinen mir noch weit grundlegendere Standards, als in diesem Dokument gefordert, nicht erfüllt zu sein. Wenn man am einen eritreischen Christen, einen bürgerkiegsgebeutelten Jemeniter oder einen homosexuellen Nigerianer denkt, muten Punkte wie 30 (konsularischer Schutz) unfreiwillig komisch an. Und ob die betreffenden Länder die Standards umsetzen könne, oder überhaupt wollen, steht in den Sternen, aber nicht im „Pakt“. Aber gerade durch Punkte wie 30 wird auch klar:

Um wen geht’s im “Pakt”?

Der „Pakt“, (oder besser: die Absichtserklärung) formuliert ein Regelwerk zum Umgang mit Migration weltweit.

Er betrachtet gleichermaßen:

  • den indischen Sklavenarbeiter in Abu Dhabi
  • die iranische Frau, die in der Türkei oder im Libanon zu unterbezahlter Arbeit (oder gleich zu sexuellen „Dienstleistungen“) erpresst wird, um sich bis zur Weiterreise ernähren zu können
  • den deutschen Auswanderer, dem in einem italienischen Ferienort eine Lizenz für eine weitere Surfschule verwehrt wird, da er Einheimischen Konkurrenz machen würde
  • den eritreischen Flüchtling, der im Sudan willkürlich von der Polizei inhaftiert wird, um Lösegeld von seiner Familie zu erpressen (ja, dafür gibt es „Tarife“)
  • das mexikanische Hausmädchen in Texas, das ohne Aufenthaltserlaubnis ihrem „Arbeitgeber“ wehrlos ausgeliefert ist
  • Rohingya in Bangladesh

Diese Beispiele sollen die Spannweite des Paktes verdeutlichen und sollten nicht dahingehend missverstanden werden, dass ich die angesprochenen Fälle auf eine Stufe stelle. Aber es ist wohl ohnehin müßig, diese Beispiele hier aufzuzählen, wenn der eurozentrierte Wohlstands-AfD’er bei „Migration“ nur an „Soros-gesteuerte Umvolkung“ denkt.

Der “Pakt” aus Sicht der AfD

Eine ganze Reihe von Punkten aus dem Entwurf bedienen übrigens sogar Forderungen der AfD (z.B. 17 a,g-j; 19 d,e; 20; 21; 25; 26 a-d,g; 27 a-d,f,g; 28 a,d,e; 37). Einige der nicht aufgezählten beziehen sich ganz offensichtlich nicht auf eine Migration aus „Afrika“ oder islamischen Ländern nach Deutschland (z.B. 30, 35). Der Rest fordert Anstand im Umgang mit Migranten und (erfreulicherweise oft hervorgehoben) Migrantinnen (z.B. 22-24; 29; 31-33), wie er sich eigentlich schon aus den Menschenrechten ergibt.

Bei 21 würde der Durchschnitts-AfD’er zwar andere Formulierungen wählen, aber der Text ist durchaus auch mit einem australischen,* kanadischen oder US-amerikanischen Einwanderungsrecht verträglich (was ich persönlich schlimm finde).

… die Demonstranten … haben doch einen guten Grund auf die Straße zu gehen.

Nach dem oben dargelegten kann sich der Protest der AfD’er eigentlich nur gegen Punkt 33 („Ziel 17: Beseitigung aller Formen der Diskriminierung und Förderung eines auf nachweisbaren Fakten beruhenden öffentlichen Diskurses zur Gestaltung der Wahrnehmung von Migration“) richten. Nein, im Ernst:

Wogegen richtet sich der Protest?

Ich höre meist nur „Stoppt den Pakt“. Die Frage, welche Punkte denn überhaupt kritisiert werden, muss ich zurück geben. Die Polemiken über „Souveränitätsverlust“ und „Ermutigung“ aus Österreich, Polen, Ungarn und den USA entbehren bei Lektüre des Text jeder Grundlage, genauso das gebetsmühlenhaft wiederholte AfD-Mantra der „Umvolkung“. Spezialexperte Orban widerspricht sich sogar selbst wenn er den Pakt ablehnt, weil man Fluchtursachen bekänpfen sollte, was aber das erste inhaltliche Ziel des Paktes ist (18). Ich weiss also wirklich nicht, wogegen konkret sich die Proteste richten.

Update: Ich habe ein Video gefunden, in dem Corinna Miazga, MdB (AfD) den Migrationspakt detailliert bespricht. Das werde ich separat zerlegen.


*) Bootsflüchtlinge auf einer abgelegenen Insel zu internieren, würde (29 a-h) widersprechen